Strategische Ambitionen

Die Macht am Bosporus
Quelle: tvnva collage, archiv. Copyright tvnva 2020

Die Unterstützung Aserbaidschans im Krieg gegen Armenien ist nur ein Teil der Bemühungen Ankaras, in der Region als potente Mittelmacht zu agieren und eine eigene strategische Agenda zu verfolgen. Seit Jahren operieren türkische Geheimdienste und reguläre Truppen in Nordsyrien. Auch in Libyen ist die Türkei als externer Akteur Teil des Bürgerkrieges. Und die Auseinandersetzung mit dem NATO-Partner Griechenland wegen der Exploration von Erdgasvorkommen im Mittelmeer hat das Potential, zum bewaffneten Konflikt zu eskalieren. Diese Aktivitäten, die im Westen häufig als „neo-osmanische“ Politik bezeichnet werden, sind Ausdruck einer interessengeleiteten Außenpolitik, die sich im Kern nicht von den Ansätzen anderer Akteure in der Region unterscheidet. Wer dazu machtpolitisch in der Lage ist, setzt seine strategischen Vorstellungen im Zweifelsfall auch mit Waffengewalt durch. Die Unterstützung islamistischer Rebellengruppen durch US-Geheimdienste und der völkerrechtswidrige Einsatz von regulären amerikanischen Soldaten in Syrien, die Einmischung von NATO-Kräften zur Entmachtung und Ermordung des libyschen Staatschefs Gaddafi und das fortwährende Engagement Frankreichs in dem vom Bürgerkrieg zerrütteten Land sind die Handlungsvorlagen, an denen sich Präsident Erdogan offenkundig orientiert und auf die er sich berufen kann. Insofern ist die westliche Entrüstung über die aktuelle Außenpolitik Ankaras pure Heuchelei. Und die Türkei ist in diesem Zusammenhang in einer komfortablen Position: Die Vereinigten Staaten sind daran interessiert, die Türkei in der NATO zu halten, denn das Land hat – wie in der Zeit des Kalten Krieges – eine Schlüsselstellung an der Südflanke des Bündnisses. Die Türkei stellt zudem mit über 400.000 aktiven Soldaten sowie fast 400.000 Reservisten die zweitstärkste konventionelle Streitmacht innerhalb der NATO. Die relativ modern ausgerüstete Armee könnte im Bündnisfall im Rahmen der nuklearen Teilhabe etwa 50 taktische Kernwaffen von den US-Streitkräften übernehmen und einsetzen. Diese Waffen lagern ungeachtet aller atmosphärischen Störungen zwischen der Türkei und den USA auf dem türkischen US-Stützpunkt Incirlik. Die Europäische Union braucht die Türkei als Partner zur Blockade der Flüchtlingsrouten nach Griechenland und ist daher auf eine Kooperation und das Wohlwollen Ankaras dringend angewiesen. Hinzu kommt, dass die Türkei den Bosporus und damit den Zugang zum Schwarzen Meer kontrolliert. Das wurde 1936 im Vertrag von Montreux festgelegt, der unter anderem die Durchfahrt von Kriegsschiffen durch den Bosporus regelt. Das Abkommen beschränkt die Passagen von Kriegsschiffen für Nichtanrainerstaaten ins Schwarze Meer und verbietet auch das Passieren von Flugzeugträgern aller Staaten durch die Meerenge. Der Vertrag von Montreux ist eines der wenigen Sicherheitsabkommen, das in der Region noch Bestand hat. Weil der Vertrag von Montreux für die Türkei selbst von großer sicherheitspolitischer Bedeutung ist, setzte sie ihn bisher auch gegenüber ihren NATO-Partnern durch. So untersagte die Türkei den USA im Georgien-Konflikt im Jahr 2008 die Durchfahrt einer größeren Anzahl von Kriegsschiffen, weil die erlaubte Gesamttonnage überschritten war. Die Einhaltung dieses Vertrages ist auch für Russland von großer Bedeutung. Und eine eigenständige Außen- und Militärpolitik der Türkei auch gegenüber der NATO ist zumindest teilweise im Interesse Moskaus. Prägnante Beispiele für die zunehmende Kooperation beider Staaten sind die Zusammenarbeit im Energiesektor und die Lieferung russischer S-400-Fliegerabwehrsysteme. Letzteres führte zu massiven Konflikten mit der NATO-Führungsmacht. Allerdings folgt die Türkei in allen außen- und sicherheitspolitischen Belangen grundsätzlich ihrer eigenen Agenda: Als am 16. Februar 2017 in Brüssel bei einer Tagung der NATO-Verteidigungsminister Generalsekretär Jens Stoltenberg ein neues Maßnahmen-Paket zur Verstärkung der NATO-Präsenz im Schwarzen Meer und im Schwarzmeerraum präsentierte, plädierte die türkische Regierung dafür, Einheiten der im Mittelmeer stationierten NATO-SNMG-2-Flotte für Rückversicherungsmaßnahmen in das Schwarze Meer zu verlegen, um einer steigenden russischen Präsenz in der Region entgegenzuwirken.

Allerdings kann und will sich die Türkei wegen der vielfältigen Wirtschaftsbeziehungen und der zumindest punktuellen Zusammenarbeit im Rüstungsgeschäft keine direkte Konfrontation mit Moskau leisten. Auch in Russland ist man erkennbar bemüht, das Verhältnis zur Türkei nicht zu belasten. Präsident Putin erklärte auf einer Pressekonferenz: „Ich weiß nicht, was Präsident Erdogan plant, wie er über das osmanische Erbe denkt. Das müssen Sie ihn fragen. Ich weiß, dass unser gemeinsamer Handel heute mehr als 20 Milliarden Dollar beträgt. Ich weiß, dass die Türkei wirklich daran interessiert ist, diese Zusammenarbeit fortzusetzen. Ich weiß, dass Präsident Erdogan eine unabhängige Außenpolitik verfolgt. ...Die Türkei hat entschieden, dass sie ein modernes Luftverteidigungssystem braucht, und das beste System der Welt heute ist die S-400 aus russischer Produktion. Er sagte es zu und hat es gekauft. Mit einem solchen Partner arbeitet es nicht bloß angenehm zusammen, sondern auch zuverlässig.“ Man ist sowohl in Russland als auch in Ankara daran interessiert, punktuelle Interessenkonflikte wie in Syrien und Libyen so zu moderieren, dass die generelle Zusammenarbeit nicht beschädigt wird. Das dürfte auch für die aktuellen Verstimmungen wegen der Kämpfe um Berg-Karabach und wegen der russischen Luftangriffe auf von der Türkei unterstützte islamistische Rebellengruppen in der nordsyrischen Provinz Idlib gelten. Momentan profitieren beide Partner von der Kooperation. Vor allem die Türkei ist dadurch in der Lage, die NATO und die EU unter Druck zu setzen, ihren Wert als unverzichtbarer und zu umwerbender Bündnispartner herauszustellen und politische Zugeständnisse zu erzwingen. Dass man sich im Westen über diese Politik erregt und Ankara Erpressung vorwirft, ändert nichts daran, dass die Türkei im Grunde lediglich pragmatisch Handlungsspielräume nutzt, die durch die Konfrontation zwischen dem Westen und Russland entstanden sind.

 

Quellen:

Rudolph, R., Markus, U.: Die Rettung der Krim, Berlin 2017

https://www.anti-spiegel.ru/2020/valdai-konferenz-putin-im-o-ton-ueber-erdogan-und-dessen-rolle-im-krieg-um-bergkarabach

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