Kampf um die Arktis – Warum der Westen zu spät kommt
Ralf Rudolph/Uwe Markus
Während Politiker in westlichen Hauptstädten seit Ausbruch der Ukrainekrise darüber spekulieren, welche strategischen und operativen Ziele Russlands Führung in Europa verfolgt, hat der Kreml längst andere Prioritäten gesetzt. Denn so unangenehm das Vorrücken von EU und NATO in den ehemals sowjetischen Einflussbereich in Osteuropa für die Führungselite des Landes ist – für den langfristigen Wiederaufstieg Russlands sind andere Regionen mittlerweile von weitaus größerer Bedeutung. Die Erschließung der Polarregionen und die Ausbeutung der dort lagernden Bodenschätze sind die Grundlage dafür, dass Russlands Führung die langfristige wirtschaftliche Konsolidierung ungeachtet der hilflosen Sanktionen des Westens fortsetzen kann. Damit sind zugleich die Hoffnungen westlicher Hardliner auf innenpolitische Destabilisierung und außenpolitische Marginalisierung Russlands illusionär.
Vorrangig geht es um die Ausbeutung von einem Viertel der weltweiten Öl- und Gasreserven mit einem Gesamtwert von mindestens 30 Billionen US-Dollar, um Nickel und Quecksilber, Antimon und seltene Erden, um Diamanten und Gold. Durch die fortschreitende Klimaerwärmung sowie durch die preistreibende weltweite Ressourcenverknappung bestehen erstmals in der Geschichte betriebswirtschaftlich attraktive Fördermöglichkeiten in der Arktis.
Mit dem erneuten Aufbruch in die Arktis wird Russland zukünftig zu den wenigen globalen Akteuren gehören, die noch über nennenswerte Reserven an fossilen Brennstoffen und anderen strategischen Ressourcen verfügen. Das sichert Unabhängigkeit und erhöht die Attraktivität Russlands als Partner für aufstrebende Länder wie zum Beispiel China und Indien.
Insofern ist verständlich, dass der russische Präsident Putin sich angesichts westlicher Vorhaltungen und Sanktionen wegen des Ukrainekonflikts recht unbeeindruckt zeigt. Man ist im Kreml längst nicht mehr auf eine Kooperation mit der Europäischen Union oder den Vereinigten Staaten von Amerika angewiesen. Für die russische Volkswirtschaft sind die Strafmaßnahmen zwar schmerzhaft, sie sind aber auch eine Chance, weil Russlands Industrie jetzt verstärkt auf den Ersatz von Importen setzen muss. Das kann sich als Initialzündung für einen technologischen Innovationsschub erweisen. Eine Fortsetzung der einfallslosen Sanktionspolitik wird die Chancen westlicher Anbieter auf dem lukrativen russischen Markt nachhaltig verschlechtern. Die durch die Sanktionen entstandene Lücke im russischen Import füllen andere Interessenten gerne – in der erklärten Absicht, langfristig von den enormen Ressourcen Russlands und den damit verbundenen geschäftlichen Möglichkeiten profitieren zu können. Der alte Westen ist mittlerweile in der sich herausbildenden multipolaren Welt mit ihren neuen wirtschaftlichen und politischen Machtzentren ersetzbar. Russlands Führung hat das – befördert durch die Zumutungen der EU- und NATO-Osterweiterungen – in einem schmerzhaften Prozess erkannt und betreibt nun pragmatisch eine strategische Neujustierung der Politik. Damit schwinden nicht nur die Einflussmöglichkeiten des Westens, sondern es ist absehbar, dass in wenigen Jahren Russland durch seine politisch instrumentalisierbaren Ressourcen völlig neue Handlungsoptionen in Europa gewinnen wird. Und die Voraussetzungen dafür werden – weitgehend unbemerkt von der westeuropäischen Öffentlichkeit – gerade jetzt geschaffen. Sie haben eine Schlüsselfunktion für den Wiederaufstieg des Landes zur Weltmacht. Russland hat bei der Exploration und Ausbeutung der arktischen Rohstoffvorkommen einen komfortablen Vorsprung vor allen anderen Interessenten, den Moskau weiter ausbauen und machtpolitisch absichern wird. Dieser Vorsprung ist Russlands Wettbewerbsvorteil in einer von zunehmenden globalen Verteilungskämpfen geprägten Zeit.
Quelle:RTDeutsch
Aufbruch: Wiederentdeckung einer Region
Die Sowjetunion hatte 1979 mit der systematischen geologischen Erforschung der Arktis begonnen. Anfang der Neunzigerjahre brach diese Entwicklung jäh ab. Russland verzichtete wegen seiner politischen und wirtschaftlichen Probleme auf die weitere Erschließung der Arktisregion. Nach dem Kollaps der UdSSR schien es in der Region dauerhaft einen wichtigen Spieler weniger zu geben. Doch mit der sukzessiven ökonomischen und machtpolitischen Konsolidierung Russlands nach der Ablösung des korrupten Jelzin-Clans von der Macht änderte sich das wieder. Nunmehr wandte man sich in den staatserhaltend denkenden Moskauer Machtzirkeln auch den beinahe abgeschriebenen Gegenden in der Arktis zu. Nach Angaben des russischen Zivilschutzes lagern in der arktischen Region Russlands Bodenschätze in einem Gesamtwert von rund 30 Billionen US-Dollar, der überwiegende Teil der russischen Rohstoffreserven, vor allem an Platingruppenmetallen, Diamanten, Nickel, Seltenen Erden, Silber, Aluminium, Quecksilber, Antimon, Kupfer, Zinn, Wolfram, Gold und Kobalt. Für Russland gilt die Arktis als wichtigste Ressourcenbasis im 21. Jahrhundert. Im Jahr 2012 wurde die aktive Erschließung der Arktis wieder aufgenommen. Die russische arktische Region liefert inzwischen ca. 11 Prozent des Nationaleinkommens und 22 Prozent des russischen Exports, was hauptsächlich der Gasförderung zu verdanken ist. Mehr als 90 Prozent des Gesamtaufkommens an Nickel und Kobalt, 60 Prozent des Kupfers, 96 Prozent des Platins und 100 Prozent des von der russischen Industrie benötigten Baryt und Apatit kommen aus dieser Region.
Die Gewinnung von Öl und Gas soll sich künftig schrittweise auf den arktischen Festlandsockel verlagern. Doch solche russischen Absichten bergen internationalen Konfliktstoff. Laut der im Jahr 1982 verabschiedeten UN-Seerechtskonvention können Staaten vor ihrer Küste eine bis zu 200 Seemeilen breite Wirtschaftszone beanspruchen, was die Ausbeutung der dort lagernden Rohstoffe einschließt. Diese Zone kann erweitert werden, wenn der Kontinentalschelf über die 200-Seemeilen-Grenze ins Meer ragt. Und in Russland ist man der Auffassung, dass genau dieser Sachverhalt in der russischen Arktisregion gegeben ist, da die unter dem Meer verlaufenden Gebirgszüge, der Lomonossow- und der Mendelejew-Rücken, als Erweiterungen des eurasischen Kontinents anzusehen seien. Im August 2007 gelangten russische Forscher nach der Auswertung von Bodenproben zu dem Schluss, dass der Lomonossow-Rücken geologisch zum russischen Festlandssockel gehört und daher Russland Rohstoffe auf einer Fläche von mehr als einer Million Quadratkilometern beanspruchen darf. Die Konkurrenten am Polarkreis – allesamt Mitliedsstaaten der NATO – teilen diese Interpretation erwartungsgemäß nicht und stellen sich in der UNO den russischen Ansprüchen entgegen. Dänemark ist bemüht zu belegen, dass der Lomonossow-Rücken mit der grönländischen Landmasse verbunden ist: Am 15. Dezember 2014 erklärte die dänische Regierung am UNO-Hauptquartier in New York ihren Anspruch auf ein riesiges Seegebiet der Arktis – einschließlich des Nordpols. Mit 895.541 Quadratkilometern ist das Gebiet fast 21 Mal größer als das Königreich Dänemark. Die dänische Forderung umfasst jedoch nicht nur das Gebiet bis zum Nordpol, sondern bis zur russischen Wirtschaftszone, 200 Seemeilen (370 km) vor der russischen Küste, was Russland als Provokation wertet. Denn um Bodenschätze geht es nur auf den ersten Blick. Experten gehen davon aus, dass im Zentrum des Arktischen Ozeans, wo das Wasser bis zu vier Kilometer tief ist, vorerst kaum Bodenschätze zu fördern sind. Hier geht es offenbar um die präventive Sicherung von Einfluss. Und das macht die Lösung des Konfliktes nicht einfacher. Der russische Antrag auf Erweiterung des Arktis-Schelfs sollte laut Russlands Minister für Naturressourcen, Sergej Donskoi, von der zuständigen UN-Kommission im Sommer 2015 behandelt werden, was jedoch auf Grund des dänischen Antrages auf das Jahr 2016 verschoben wurde.Quelle: http://www.bnd.bund.de/
Mehr als die Hälfte der vermuteten arktischen Öl- und Gasreserven befinden sich auf russischem Hoheits- und Schelfgebiet, zumeist in der Barentssee und in der Karasee. Der größte Teil davon ist Gas. Größere Erdöllager werden auch in der Tschuktschensee nördlich der russischen Tschuktschenhalbinsel und Alaskas vermutet. Heute gibt es im gesamten Polargebiet rund 60 große Öl- und Gasfelder auf dem Festland, von denen 43 Russland gehören. Doch die Zukunft der Öl- und Gasförderung liegt im Offshore-Geschäft. Russland wird in den kommenden 15 Jahren vor allem Offshore-Vorkommen in der Barentssee, der Petschorasee, der Ob-Bucht und in der Karasee ausbeuten. Jedoch sollen bis 2030 deutlich mehr Felder als die bisherigen vier erkundet und erschlossen werden. Rosneft veranschlagt den Bedarf für die Erschließung aller Erdgasfelder in der Barentssee und Karasee auf 106 Bohrplattformen. Die Kosten werden auf 30 Milliarden Dollar geschätzt.
Das Exklusivrecht für Offshore-Bohrungen in der russischen Arktis besitzen die staatlichen Erdölkonzerne Rosneft und Gazprom. Ihnen fehlte es zunächst an Erfahrungen und Technologien für die neuartige Methode der Offshore-Förderung. Um die Erschließung eines Teils der russischen Lizenzfelder schneller voranzu-treiben, kooperierten sie deshalb gern mit westlichen Ölkonzernen. So schloss Rosneft im Jahr 2012 eine Allianz mit dem größten amerikanischen Ölmulti Exxon zur Exploration und Ausbeutung der Öl- und Gasvorkommen in der russischen Arktis. Mit etwa 3,2 Milliarden Dollar sicherte sich Exxon die Zugangsrechte in der Barentssee und in der Karasee, einem arktischen Gebiet von der Größe des US-Bundesstaates Texas. Und Russland gelangte an die neuesten Technologien für Offshore-Bohrungen. Alle Hightech-Kooperationen mit westlichen Partnern im russischen Arktissektor spielen sich jedoch aktuell in einem enormen politischen Spannungsfeld ab. Der Ukrainekonflikt und die auf Betreiben der USA verhängten Wirtschaftssanktionen beeinträchtigen insbesondere die gemeinsamen Erkundungs- und Förderprojekte in der Arktis. Erfreut ist man darüber in den Chefetagen der westlichen Mineralölgesellschaften keineswegs. Denn wer aus politischen Gründen auf die Kooperationsmöglichkeiten mit Russland verzichtet, verliert nicht nur Gewinnchancen, sondern hat zudem dauerhaft keinen Zugang zu den strategisch wichtigen Rohstoffvorkommen. Die Sanktionen könnten sich zudem als juristisches Risiko für die westlichen Staaten und Firmen erweisen: Der russische Ölkonzern Rosneft wird nach eigenen Angaben seine finanziellen Verluste infolge der US-Sanktionen erfassen und späterhin auf eine Entschädigung vor Gericht klagen. Das Verfahren könnte Nachahmer finden.
Die russische Regierung sieht im Rückzug westlicher Energiekonzerne aus gemeinsamen Projekten derzeit keine größeren Probleme. Man könne die westlichen Unternehmen durch neue Partner ersetzen. Russische Ölfirmen suchen dabei vor allem den Schulterschluss mit Unternehmen aus China und Indien, um gemeinsam langfristige Technologien für die Ölförderung in der Arktis zu entwickeln.
Rosneft kündigte an, künftig verstärkt auf Bohrausrüstungen aus russischer Produktion oder aus Staaten, die keine Sanktionen verhängt haben, zu setzen. Bislang stammten bis zu 70 Prozent der Ausrüstungen aus der EU oder aus den USA. Zwar nehme die Umstellung der Beschaffung Zeit in Anspruch. Doch ist die Fähigkeit von Rosneft zur Offshore-Ölförderung nach eigenen Angaben vorerst nicht beeinträchtigt. Gazprom brachte 2014 auch ohne westliche Partner mehr als 125.000 Meter Explorationsbohrungen und sieben Such- sowie 25 Erkundungsbohrungen in den russischen Erdöl- und Erdgas-Hauptregionen bei Irkutsk, im Schelf von Sachalin, auf der Halbinsel Jamal sowie in der Barentssee und in der Karasee nieder. Allein im Zeitraum bis 2020 sollen rund 100 Erkundungs- und Ausbeutungsbohrungen durchgeführt werden. Russland jedenfalls scheint entschlossen, die durch die Sanktionen entstandene wirtschaftspolitische und technologische Herausforderung anzunehmen. Doch dieser Aufbruch zur Wiederentdeckung und Entwicklung der russischen Arktis muss militärisch abgesichert werden.
Machtdemonstrationen: Russlands neuer Stolz
Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Auflösung der russischen Verbände in der Arktis im Jahr 1993 fehlten dort das Personal und moderne technische Mittel zum Führen von Kampfhandlungen unter den extremen klimatischen Bedingungen. Es gab keine russischen Militäreinheiten mehr zwischen den Inseln Nowaja Semlja im Westen und der Tschuktschensee im Osten. Und es gab kein brauchbares Einsatzkonzept für die Abwehr einer Aggression oder einer unkontrollierten Verletzung der russischen Staatsgrenze. Auch moderne Frühwarnsysteme gegen Angriffe aus der Luft oder aus dem Kosmos waren nicht vorhanden. Der Hohe Norden hätte zum Einfallstor für einen Aggressor werden können. Mit dem immer weiteren Vordringen der USA und der NATO in den ehemals sowjetischen Raum wurden zudem latente Befürchtungen der russischen Führung vor einer westlichen Einkreisung bestätigt.
So erklärte Russlands Generalstabschef, Armeegeneral Waleri Gerassimow: "Leider ist ein bewaffneter Konflikt möglich. Die US-Armee und die NATO sehen keinen anderen Feind als Russland", und fuhr fort: „Der Kalte Krieg zwischen Russland und dem Westen hat im Grunde nie aufgehört. Auch wenn Russland alle Forderungen der USA und der NATO erfüllen würde, werden sich immer neue Vorwürfe gegen Moskau finden lassen". Vor dem Hintergrund dieser Bewertung schert sich Russland nicht mehr um propagandistische Schuldzuweisungen aus westlichen Hauptstädten, sondern schafft Tatsachen. Was zählt, ist die reale militärische Machtentfaltung zur Durchsetzung eigener Interessen – analog zum Vorgehen der westlichen Führungsmacht. Das gilt auch für die Arktis.
Die russische Führung besinnt sich folgerichtig auf die Ressourcen und die einstmals vorhandenen militärischen Potentiale in der russischen Polarregion.
Der russischen Nordflotte, dem lange Jahre vernachlässigten Prestigeverband der sowjetischen Marine, wurde modernste Technik zugeführt, um sie wieder zur stärksten Seestreitmacht Russlands aufzurüsten. Ehemals sowjetische Militärstützpunkte werden reaktiviert und ausgebaut. Zurzeit errichtet Russland 16 Häfen, 13 Flugplätze und zehn Flugabwehr-Stationen in der Arktis. Russische Langstreckenbomber patrouillieren regelmäßig über der Region. Speziell ausgebildete und ausgerüstete Einheiten der russischen Armee sollen zukünftig auch zu aktiven Kampfhandlungen in der Arktis in der Lage sein.
In Anlehnung an die im Dezember 2014 in Kraft getretene neue russische Militärdoktrin unterzeichnete Präsident Putin am 27. Juli 2015 auch eine neue Marinedoktrin. Das 46 Seiten umfassende Dokument benennt vier Prioritäten: militärische Präsenz, Sicherung der Seewege, Erforschung und Erschließung von Bodenschätzen. Auch sollen die Grenzen im Kontinentalschelf des Nordpolarmeeres gesichert werden. Die neue Doktrin betont den defensiven Charakter der russischen Marineaktivitäten und sieht keinen atomaren Erstschlag vor. Jedoch behält sich die Russische Föderation das Recht vor, einen Überfall mit Massenvernichtungswaffen auf Russland oder seine Verbündeten durch den Einsatz von Nuklearwaffen abzuwehren. Das gilt auch für eine Aggression unter Einsatz herkömmlicher Waffen, falls dabei die Existenz des russischen Staates bedroht wird. Es ist die Rückkehr zur Strategie der Abschreckung aus der Zeit des Kalten Krieges, die immer auch eine präventive Handlungsoption beinhaltete. Manche Politiker im Westen, die vor allem angesichts des Konflikts in der Ostukraine recht schnell ein direktes militärisches Engagement der NATO in der Ukraine forderten, werden sich daran erinnern müssen, dass mit konventionellen Waffen begonnene Konflikte recht schnell in einen globalen nuklearen Schlagabtausch münden können – eine Erkenntnis aus der Zeit des Kalten Krieges, die mancher angesichts russischer Schwäche wohl vergessen hatte.
Laut dem staatlichen russischen Rüstungsprogramm stehen für die Kriegsmarine bis zum Jahr 2020 4,7 Billionen Rubel zur Verfügung. Acht schwere strategische Atom-U-Boote der Borej-Klasse und acht strategische Mehrzweck-Atom-U-Boote der Jarsin-Klasse, vierzehn Fregatten, 35 Korvetten, sechs Raketenschiffe und sechs große Landungsschiffe sollen in dieser Zeit in Dienst gestellt werden.
Die Nordflotte ist die größte der fünf russischen Flotten und momentan auch die strategisch wichtigste. Die Kräfte der Nordflotte sind an den Küsten des Nördlichen Eismeeres von der finnischen Grenze im Westen bis zur Beringstraße im Osten stationiert. Im Bestand dieses Verbandes befinden sich zurzeit neben drei Raketenschlachtkreuzern der einzige russische Flugzeugträger Admiral Kusnezow, ein Lenkwaffenkreuzer und sieben Lenkwaffenzerstörer Hinzu kommen sechs große Landungsschiffe. Außerdem gehören zur Nordflotte die 11. U-Boot-Brigade und die 12. U-Boot-Brigade mit ihren strategischen Atom-U-Booten.
Auch strukturell reagiert Moskau auf die zunehmende Konfrontation im Hohen Norden: Im Dezember 2014 wurde das Besondere Strategische Kommando Nord mit der Nordflotte als Kern gebildet. Einheiten und Verbände anderer Truppengattungen aus den Militärbezirken West und Ost, die bereits im Norden des Landes stationiert waren, sind dem neuen Kommando Nord zugeordnet worden. Auch Grenzschutz-einheiten wurden in die neue Struktur eingegliedert. Der Stab des Strategischen Kommandos befindet sich in Murmansk. Der Verantwortungsbereich des Kommandos umfasst nicht nur das russische Territorium hinter dem Polarkreis sowie die Nordostpassage und die Russland vorgelagerten Schelfgebiete, sondern auch das gesamte Gebiet bis zum Nordpol. Im Grunde handelt es sich um den Aufbau eines fünften Militärbezirks (neben den bisherigen vier vereinigten strategischen Kommandos West, Ost, Zentrum und Süd).
Die Aufgaben des Kommandos Nord sind sehr umfangreich: Es geht um die Abwehr von ballistischen Raketen und Marschflugkörpern, die von gegnerischen U-Booten im Konfliktfall gestartet werden könnten, ebenso wie um die Verteidigung der ökonomischen Interessen Russlands im Schelfgebiet der Arktis. Unterhalb der Schwelle eines nuklearen Schlagabtausches bereitet man sich auf den Einsatz konventioneller Truppen vor. Außerdem werden Konzepte für das Zusammenwirken militärischer Strukturen mit den zivilen Such- und Rettungsmannschaften des Arktisgebietes in der Nordostpassage entwickelt. Zunächst treibt man Wiederaufbau der militärischen Infrastruktur auf den Inseln des nördlichen Eismeeres voran. Auch wird derzeit die Luftverteidigung im Norden neu organisiert.
Das neue Militärkommando soll jedoch nicht nur militärischer Präsenz demonstrieren, sondern auch das soziale und ökonomische Potential der Arktisregion revitalisieren.
Ratlosigkeit: Konflikte und Drohgebärden
Die rasante Entwicklung der militärischen Kapazitäten Russlands in der Arktisregion kommt für US-Strategen überraschend. Man hatte – wie so oft in der Vergangenheit – das russische Rüstungspotential und vor allem den Willen der Moskauer Führung zur Sicherung ihrer Machtsphäre unterschätzt. Bei den Entscheidern der in viele kostspielige Kriegsabenteuer verwickelten USA haben die arktischen Sicherheitsinteressen bisher nur eine untergeordnete Rolle gespielt. Mit erheblicher zeitlicher Verzögerung begann die Umsetzung jener Präsidentendirektive („National Security Presidential Directive 66“ oder „Arktische Politische Direktive“), die der damalige US-Präsident George W. Bush bereits am 9. Januar 2009 – unmittelbar vor dem Ende seiner Amtszeit – erlassen hatte. Dort heißt es: „Durch die zunehmende Aktivität in der Arktis sehen sich die USA gezwungen, ihre Präsenz und ihren Einfluss in der Region auszuweiten, um ihre dortigen Interessen zu wahren und den Zugang der US-Seestreitkräfte in der gesamten Region zu gewährleisten“.
Die bereits vorhandene militärische Infrastruktur in Alaska, besonders die gemeinsame Luft- und Weltraumverteidigung der USA und Kanadas, werden nunmehr erweitert und modernisiert. Auch sollen gemeinsame Militärstützpunkte in der Arktis, besonders für die Stationierung von Atom-U-Booten und Flughäfen für strategische Bomber geschaffen werden. Die Kontrolle von Bewegungen russischer U-Boote unter dem Eis des Polargebietes und der Patrouillenflüge russischer strategischer Bomber über der Arktis und dem Nordatlantik soll ausgebaut werden.
Die Anwesenheit von amerikanischen Atom-U-Booten in der Barentssee, die ihre operativen Aufgaben auch unter dem Eis fortsetzen können, wurde verstärkt. So spürten zum Beispiel diensthabende Kräfte der russischen Nordflotte am 7. August 2014 ein U-Boot der Virginia-Klasse der US-Navy in den Grenzgewässern der russischen Barentssee auf. Es wurden U-Boot-Abwehrschiffe und ein U-Boot-Abwehrflugzeug des Typs Il-38 in den vorgegebenen Raum zur Beobachtung entsandt und das U-Boot aus dem Hoheitsgewässer der Russischen Föderation nach 27 Minuten abgedrängt.
Das militärische Problem der US-Armee und besonders der US-Navy und der Air Force ist jedoch, dass ihre Technik und ihre Soldaten noch nicht für Einsätze in den nördlichen Breiten ausgerüstet sind. Das zu ändern, dürfte sich als teures Unter-fangen erweisen, denn alle bisherigen von den USA geführten Kriege fanden in gemäßigten oder tropischen Klimazonen statt. Die wichtigsten Stoßkräfte der US-Luftwaffe und Marine ebenso wie die Flugzeugträgerkampfgruppen sind in Bahrein, Japan oder auf Hawaii stationiert. Also immer in Ländern, wo die Tagestemperaturen selten niedriger als 25 Grad Celsius liegen. Die meisten Flugzeuge der US-Air Force, wie die F-35, sind für einen Einsatz unter arktischen Bedingungen gar nicht konstruiert. Die westliche Technik und die Soldaten sind also für einen dauerhaften Einsatz in der Arktis unter den dort herrschenden klimatischen Bedingungen noch nicht bereit. Das möchten US-Strategen nunmehr schnellstens ändern.
Die Entschlossenheit, ihre Interessen in der Arktis wahrzunehmen, demonstrieren die USA und andere westliche Anrainerstaaten durch umfangreiche Militärmanöver. Neben den USA und Kanada sind auch die skandinavischen Länder Schweden, Norwegen, Finnland und Dänemark in der Arktis militärisch aktiv. Diese Entwicklung deutet einerseits darauf hin, dass die Bedeutung militärischer Einsatzfähigkeit in der Arktis nunmehr auch in Skandinavien erkannt wurde und man bemüht ist, das Feld nicht nur den größeren Staaten der Region zu überlassen. Doch zugleich wird deutlich, wer als potentieller Hauptgegner auf diesem Schauplatz gilt: Unter dem Vorwand der politischen Spannungen mit Russland wegen des Ukrainekonfliktes treibt vor allem Schweden die Militär-Kooperation der skandinavischen Länder voran. Dazu soll das Nordische Verteidigungsbündnis (NORDEFCO), dessen Vorsitz Schweden hat, genutzt werden. Dem Bündnis gehören neben Schweden auch Finnland, Norwegen, Dänemark und Island an. Begonnen werden soll mit der Verbesserung der Radar-Frühwarn-Systeme und einer engeren Luft- und See-Kooperation sowie mit einer stärkeren bilateralen militärischen Zusammenarbeit mit Finnland. Stockholm möchte auch gern – ergänzend zur EU-Kampfeinheit Nordic Battle Group (NBG) eine Nordic Baltic Battle Group (NBBG) unter schwedischer Leitung bilden.
Die Nordic Battle Group (NBG) der EU wird seit dem 1. Januar 2008 jeweils für ein halbes Jahr aufgestellt und ist eine Einheit der Krisenreaktionskräfte der EU, an der 18 Staaten beteiligt sind. Sie besteht aus ungefähr 2.500 Soldaten. Um die Nachbarländer von einer NBBG zu überzeugen, wurde im Dezember 2014 das Phantom eines russischen U-Bootes in den Gewässern vor Oslo immer wieder ins Spiel gebracht. Am 8. April 2015 verständigten sich Norwegen, Schweden, Finnland, Dänemark und Island in einer gemeinsamen Deklaration auf die Verstärkung ihrer militärischen und militärtechnischen Zusammenarbeit. Anders als in der Vergangenheit, ist die Kooperation dieser Länder im Verteidigungsbereich nunmehr gegen Russland ausgerichtet, was die bisherigen positiven Erfahrungen Russlands beim Zusammenwirken mit diesen Ländern untergräbt. Besonders ist man in Moskau besorgt, dass die neutralen Staaten Schweden und Finnland eine Annäherung an die NATO vollziehen. Während es zwischen Schweden und den USA bereits in der Zeit des Kalten Krieges eine verdeckte militärische und nachrichtendienstliche Kooperati-on gab – etwa bei der Ausspähung der sowjetischen Ostseeküste –, ist Finnlands außen- und militärpolitischer Kurs für russische Militärs ein Novum.
Besonders die Vereinigten Staaten und Deutschland drängen auf eine stärkere Integration Finnlands in die NATO. Die Einbeziehung Finnlands in die NATO-Strukturen vollzieht sich in kleinen Schritten: So wird das Land im Jahr 2016 einen Teil seine militärischen Neutralität verlieren und sich dann, obwohl es kein NATO-Mitglied ist, an der NATO Response Force (NRF) beteiligen. Diese 2002 aufgestellte schnelle Eingreiftruppe der NATO besteht aus 22.000 Soldaten der Infanterie und Marineeinheiten bis zur Stärke einer Flugzeugträgerkampfgruppe und aus Flugzeug-technik, die bis zu 200 Einsätze pro Tag ermöglicht. Die Einbeziehung finnischer Einheiten war bereits im Mai 2008 beschlossen worden.
Die Neutralität Schwedens und Finnlands ist mit der im Jahr 2014 in Wales unter-zeichneten Vereinbarung über militärische Hilfe in Krisensituationen ohnehin längst Vergangenheit. Denn entsprechend dieser Vereinbarung werden der NATO viele Möglichkeiten zur militärischen Nutzung des schwedischen und finnischen Territoriums, des Luftraumes und der Küstengewässer eröffnet. Schweden und Finnland müssen demnach die Sicherstellung von Lebensmitteln, Treibstoff und Munition gewährleisten. Das Entstehen einer Krisensituation wird jedoch ohne Zustimmung der beiden Länder durch die NATO festgestellt. Finnland hat diese Vereinbarung vor der Öffentlichkeit verheimlicht und nicht im Parlament beraten.
In Reaktion auf die Bildung neuer russischer Truppenteile in der Arktis kündigte nunmehr auch Norwegen die Aufstellung eines arktischen Bataillons an. Unter Federführung Norwegens fand zudem vom 12. bis 19. März 2014 auf seinem Territorium das bislang größte arktische Militärmanöver der NATO mit 16.300 Soldaten aus 14 westlichen Ländern satt. Vom Terrorangriff bis zum konventionellen Krieg wurde alles trainiert. Dieses Manöver mit der Bezeichnung Cold Response 2014 (Kalte Antwort) sollte möglichst realitätsnah angelegt sein. Hauptmanöver-gebiete waren die Region um die Stadt Narvik hinter dem Polarkreis und die Barentssee an der Grenze zu Russland. Den Großteil der Soldaten stellte Norwegen mit rund 7.000 Mann. Beteiligt waren auch 336 Soldaten der Bundeswehr und die Korvette Magdeburg der Bundesmarine. Vom 10. bis 19. März 2015 wurde zudem in der norwegischen Finnmark, die unmittelbar an Russland grenzt, ein großes norwegisches Manöver mit der Bezeichnung Joint Viking durchgeführt. Es war seit 50 Jahren das erste Manöver in der Gegend. Rund 5.000 norwegische Soldaten trainierten in unmittelbarer Nähe zum russischen Nachbarn den Ernstfall. Bei diesem durch die USA und die NATO empfohlenen Manöver kamen 400 Panzer und Geschütze in der Nähe der Ortschaft Kirkenes und auf dem Übungsplatz Chalkawarre zum Einsatz. Gleichzeitig wurde bekannt, dass die NATO eine Einladung Norwegens akzeptiert hat, im Jahr 2018 ein Manöver mit rund 25.000 Soldaten verschiedener Truppengattungen in Norwegen abzuhalten. Auch diese Übung soll im Norden des Landes stattfinden.
Die Luftwaffen der NATO-Staaten begannen Ende Mai 2015 die bisher umfangreichste Luftwaffenübung in Skandinavien. An dem Manöver Challenge Exercise 2015 nahmen bis zum 5. Juni 2015 mehr als 100 Flugzeuge teil. Die Teilnehmerländer waren Norwegen, die USA, Frankreich, Deutschland, die Niederlande aber auch die formal als neutral geltenden Länder Finnland, Schweden und die Schweiz. Ziel der Übung war das Training des Zusammenwirkens der Luftwaffen verschiedener Länder etwa beim Betanken in der Luft, beim Luftkampf und bei der Vernichtung von Bodenzielen. Die Betankung von Kampfflugzeugen in der Luft ist bei der schnellen Verlegung von Maschinen und bei Angriffen auf weit entfernte Ziele von Bedeutung. Und beim Training der Vernichtung von Bodenzielen ging es vor allem um die Ausschaltung gegnerischer Anlagen der Luftverteidigung.
Um auch auf See Flagge zu zeigen, fand direkt im Anschluss an die Übung im nordischen Luftraum das NATO-Marinemanöver Baltops in der Ostsee statt. Hauptziel beider Übungen, so der schwedische Generalmajor Karl Engelbrektson, sei es gewesen, die operativen Fähigkeiten zu erhöhen, „aber auch ein klares sicherheitspolitisches Signal zu senden, dass wir diese Dinge zusammen mit anderen tun". Es muss nicht verwundern, dass solche Übungsszenarios auf russischer Seite registriert und als Signal westlicher Stärke gewertet werden, was Russland Führung in ihrer Bedrohungsrezeption bestätigt und wiederum Gegen-maßnahmen rechtfertigt. Hier werden die Verhaltensmuster aus der Zeit des Kalten Krieges reaktiviert.
So löste am 16. März 2015 Präsident Putin eine Alarmübung der russischen Streitkräfte aus, in deren Verlauf auch ein groß angelegtes Manöver der Nordflotte stattfand. Eine unangekündigte Überprüfung der Gefechtsbereitschaft der russischen Armee war seit dem Ende der Sowjetunion bisher nur einmal durchgeführt worden. In Alarmbereitschaft versetzt wurden die Kräfte der Nordflotte, die Stäbe des neu gebildeten Militärbezirkes Nord und Teile des Militärbezirkes West. Ziel des Manövers war es, die Kampf- und Einsatzbereitschaft auch unter schweren klimatischen Bedingungen zu überprüfen. Die Truppen trainierten mit scharfer Munition und übten die Verstärkung der Einheiten auf Nowaja Semlja und auf den Franz-Josef-Inseln. Beteiligt waren 38.000 Soldaten, 3.360 leichte und schwere Militärfahrzeuge, 41 Kriegsschiffe, 15 U-Boote sowie 110 Flugzeuge und Hubschrauber. Neben Luftlandeeinheiten und der Marineinfanterie der Nordflotte wurde auch die neu aufgestellte 80. Arktische Mot.-Schützen Brigade in die Übung einbezogen. Zur Verstärkung des Militärbezirkes Nord wurden zwei Regimenter und Spezialkräfte der Luftlandetruppen aus den Gebieten Sankt Petersburg und Smolensk des Militärbezirkes West mit 30 Flugzeugen und Hubschraubern verlegt.
Norwegen reagierte mit Befremdung auf das, da der Übungsraum in der Barentssee und auf der Halbinsel Kola in unmittelbarer Nähe der russischen Grenze zu Finnland und Norwegen lag. Dass Russland auf die NATO-Manöver an seinen Nordgrenzen und insbesondere auf die Truppenübung Joint Viking adäquat reagieren würde, hatte man allerdings wissen können.
An dem mittlerweile in der Arktisregion installierten russischen Machtpotential kom-men die westlichen Staaten nicht vorbei. In dieser Region herrscht damit zurzeit ein militärisches und politisches Gleichgewicht, das den Übermut einzelner Akteure bei der Durchsetzung wirtschaftlicher und militärischer Interessen mittelfristig begrenzen kann. Letztlich kann nur ein solches relatives Gleichgewicht sicherstellen, dass die unterschiedlichen Interessen in der Region friedlich verhandelt und ausgeglichen werden.
Ralf Rudolph/Uwe Markus
Titel: Rudolph/Markus: Kampf um die Arktis – Warum der Westen zu spät kommt. PHALANX. Berlin 2015, 245 Seiten, 125 Abbildungen und Fotos, 16,95 Euro, ISBN: 978-3-00-050970-4, ab 15. Oktober 2015 lieferbar
BildQuellen: http://4.bp.blogspot.com / https://deutsch.rt.com / http://de.sputniknews.com
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