Zur militärpolitischen Situation in Syrien

Zur militärpolitischen Situation in Syrien

In letzter Zeit hat sich die militärpolitische Lage im Nahen Osten auf unerwartete Weise verändert. Das strategische Abkommen mit Russland, das während der Amtszeit des ehemaligen Premierministers Israels, Benjamin Netanjahu, bestand, wonach Moskau viele Jahre lang einfach die Augen zudrückte, was Israels Raketen- und Bombenangriffe gegen pro-iranische Kräfte in Syrien betraf, gibt es nicht mehr. Angeblich sind auf Anweisung von Wladimir Putin nun russische Luftverteidigungsspezialisten in der syrischen Armee und auf dem russischen Militärflugplatz Khmeimim von dieser Zurückhaltung entbunden. Offenbar wurde ihnen kürzlich stillschweigend erlaubt, sich an der Abwehr israelischer Luftangriffe auf militärische Einrichtungen in Syrien zu beteiligen. Seit diesem Monat sind russische Offiziere sowie russische Waffen und Ausrüstung für die elektronische Kriegführung bereits an solchen Kämpfen beteiligt und haben bereits beachtliche Erfolge erzielt.

Die Grundlage für diese Vermutung sind zwei aktuelle Ereignisse dieses Luftkrieges. Der stellvertretende Leiter des Russischen Zentrums für die Versöhnung der Kriegsparteien (CPVS) in Syrien, Konteradmiral Vadim Kulit berichtete, dass am 19. Juli 2021, von 23:39 bis 23:51 Uhr, vier israelische taktische F-16-Kampfflugzeuge über die von den US-Streitkräften kontrollierte Al-Tanf-Zone in den syrischen Luftraum eindrangen. Die israelischen Flugzeuge starteten acht Lenkflugkörpern auf Ziele im Al-Safir-Gebiet südöstlich der Stadt Aleppo. Seither hatten die israelischen Piloten mit diesen hochpräzisen Raketen fast hundertprozentige Erfolge erzielt. Aber diesmal war es anders. Sieben der acht Raketen, die von den F-16 gestartet wurden, wurden nach Angaben des Konteradmirals von den syrischen Luftverteidigungskräften mit den in Russland hergestellten Luftverteidigungskomplexen Pantsir-S und Buk-M2 abgeschossen, . Die Achte beschädigte das Gebäude eines Forschungszentrums im Dorf Safira in der Provinz Aleppo.

Der nächste israelische Angriff fand in der Nacht zum 22. Juli statt. Die israelischen Kampfflugzeuge versuchten, das Gebiet El Quseir in der syrischen Provinz Homs anzugreifen, wo sich laut Tel Aviv eine iranische Militärbasis befindet. Diesmal griffen fünf israelische F-16-Flugzeuge, ohne den syrischen Luftraum zu verletzen, aus dem Libanon, das Ziel an. Die Langstrecken-Marschflugkörper Delilah und die neu eingeführten hochpräzisen Gleitbomben SPICE-1000 mit einer Reichweite von bis zu 60 Kilometern und einer Treffergenauigkeit von bis zu drei Metern wurden vom libanesischen Luftraum aus, nordöstlich von Beirut, gestartet. Dieser Schlag brachte jedoch nach Aussagen von Tel Aviv keine Ergebnisse. Fast alle Raketen wurden auf dem Weg nach El Quseir abgefangen und zerstört. Nur eine der SPICE-1000-Bomben wurde von russischen Systemen der elektronischen Kriegführung zur harten Landung gezwungen. Sie fiel fast unversehrt auf syrischen Boden und wurde schnell von Syrien nach Moskau transportiert, um diese neueste Waffe gründlich zu studieren.

Direkt nach diesem unerwarteten Ärger für Tel Aviv zog die lokale israelische Website DEBKA, die auf Nachrichten und Analysen im Bereich des militärischen Geheimdienstes spezialisiert ist, schnelle Schlussfolgerungen: „Russland hat seine Haltung gegenüber israelischen Luftangriffen in Syrien geändert. Offiziere der russischen Luft- und Weltraumstreitkräfte und Kommandeure syrischer Raketenbatterien arbeiten jetzt daran, israelische Raketen oder israelische Flugzeuge abzufangen, wenn sie die Grenze überqueren und in den syrischen Luftraum eindringen. Laut russischen Militärquellen kam die Änderung der russischen Politik, nachdem der russische Präsident Putin ein Signal aus dem Weißen Haus in Washington erhielt, dass die Regierung von Präsident Joe Biden die israelischen Angriffe in Syrien nicht länger unterstützen wird. Washington begrüßt die anhaltenden israelischen Angriffe nicht. Wenn dieser Bericht richtig ist, dann ist es am Ende nicht nur eine Änderung der Haltung Russlands gegenüber israelischen Angriffen, sondern auch eine Änderung der amerikanischen Politik gegenüber Israels Militäroperationen in Syrien.“

Das ist wahrscheinlich eine direkte Folge der stillschweigenden Vereinbarungen, die beim jüngsten Gipfeltreffen der Präsidenten Russlands und der Vereinigten Staaten am 16. Juni in Genf getroffen wurden. Viele haben zuvor argumentiert, dass sich der Kurs der neuen US-Administration im Nahen Osten deutlich von dem des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump unterscheiden wird. Wahrscheinlich ist dabei der Hauptfaktor Bidens Absicht, das „Atomabkommen“ mit dem Iran wiederzubeleben. Doch der Versuch, die Perser durch internationale Sanktionen an den Verhandlungstisch zu zwingen und gleichzeitig den Israelis zu verbieten, irakische militärische Einrichtungen der Verbündeten von Bashar al- Assad in Syrien anzugreifen, sind zwei unvereinbare Dinge. Washington muss manövrieren. Es scheint, dass die Vereinigten Staaten als ersten Schritt des guten Willens Israel gegenüber deutlich gemacht haben, dass dessen derzeitige Politik der inoffiziellen Beteiligung an einem Krieg für die Vereinigten Staaten nicht mehr akzeptabel ist.

Ariel Bulshtein, ein ehemaliger Berater von Benjamin Netanjahu, hat kürzlich bestätigt, dass die israelischen Behörden in den Beziehungen zu Moskau und Washington zunehmende Schwierigkeiten haben. In einem Interview mit einer der Lokalzeitungen begründete er das mit der „Unerfahrenheit der neuen Regierung des israelischen Staates" unter der Führung von Naftali Bennett, der vor etwas mehr als einem Monat im Land an die Macht gekommen war. Infolgedessen, so der Ex-Berater, beginne Russland zunehmend, sich Israel in Syrien zu widersetzen. Und die Vereinigten Staaten haben es nicht eilig, sich in diesen Prozess einzumischen. Und das könnte dem israelischen Militär enorme Schwierigkeiten bereiten, das die Überfälle nie offen bestätigte und anscheinend auch weiterhin durchführen will.

Es ist kein Geheimnis, das die meisten der Angriffe der israelischen Luftwaffe in Syrien auf Informationen basieren, die der amerikanische Geheimdienst regelmäßig mit israelischen Generälen teilt. Denn die Luftangriffe auf Syrien wurden mit Hilfe von Daten der US-Satelliten durchgeführt. Dies wurde kürzlich von Associated Press unter Bezugnahme auf Quellen im amerikanischen Geheimdienst berichtet. Wenn dieser Datenfluss vom Pentagon nach Tel Aviv plötzlich versiegt, wird es für die Israelis schwierig, Luftangriffe zu planen. Das sind auf jeden Fall keine guten Nachrichten für Israel. Auch weil die plötzliche starke Zunahme der Aktivitäten  russischer Flugabwehrsysteme in Syrien mit der Vorbereitung eines bewaffneten Zusammenstoßes mit der israelischen Luftwaffe verbunden sein kann.

Die Parteien waren im September 2018 bereits einen Schritt von einer für alle so extrem gefährlichen Situation entfernt. Während der Abwehr eines Angriffs von vier israelischen F-16-Kampfflugzeugen auf Objekte der Hisbollah in der Provinz Latakia wurde ein russisches Aufklärungsflugzeug vom Typ Il-20 versehentlich über dem Mittelmeer abgeschossen. Die Besatzung von 15 Offizieren wurde getötet. Nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums wurde das Flugzeug von den syrischen Luftverteidigungskräften, aufgrund der Provokation des israelischen Militärs, mit einem Flugabwehr-Raketensystem S-200 der Assad-Streitkräfte versehentlich abgeschossen. Moskaus Reaktion war überraschend hart. Um die Kampffähigkeiten der syrischen Luftverteidigungskräfte dringend zu verbessern, wurden am 2. Oktober 2018 drei Feuerabteilungen des Flugabwehrraketensystems S-300PM-2 von Russland nach Syrien geliefert. Da Damaskus zu dieser Zeit einfach noch keine Spezialisten für solche hochentwickelte Ausrüstung hatte, wurde festgelegt, dass zunächst, bis die Ausbildung der syrischen Besatzungen im russischen Gatschina abgeschlossen ist, die schlimmsten Feinde Israels, das iranische Militär, die S-300 bedienen werden, weil sie schon Erfahrungen auf ähnlichen Systemen, die zuvor von Moskau nach Teheran geliefert wurden, hatten. Vor dem Hintergrund solcher unheilvollen Ereignisse eilte Ministerpräsident Netanjahu sofort nach Moskau, um mit Putin zu verhandeln. Offenbar erwiesen sich die politischen Verhandlungen, deren Details nicht bekannt gegeben wurden, als erfolgreich. Denn Israel hielt sich mit seiner Luftwaffe zurück und an Stelle der Iraner wurden russische Offiziere zur Bedienung der S-300 eingesetzt.

Wenn die israelische Luftwaffe unter den heutigen Bedingungen gezwungen ist, die Angriffe auf Syrien einzustellen, wird dies den Iran eindeutig dazu inspirieren, noch umfassender in den Krieg in Syrien einzugreifen. Und der Iran  wird seinen Militärs erlauben, noch näher an die israelische Grenzen vorzurücken. Teheran verfügt bereits über bedeutende Militärstützpunkte in Syrien, bei Imam Ali nahe der irakischen Grenze sowie über einen Stützpunkt in einem strategisch wichtigen Gebiet zwischen Homs und Palmyra. Über letzterem weht zwar formal die syrische Flagge. Aber nach Angaben von israelischen Militärs wurde vom Stützpunkt im Februar 2018 der größte iranische Drohnenangriff auf Israel gestartet. Daher haben die Flugzeuge Israels in den letzten Jahren diese Militärbasis regelmäßig mit Bomben und Raketen beschossen.

Aber was nun? Soll Israel die Perser auf dem Stützpunkt weiter mit Bomben und Raketen bekämpfen und riskieren, von russischen Raketen abgeschossen zu werden oder durch die russischen Stationen der elektronischen Kriegführung blind oder taub werden und die Orientierung zu verlieren? Oder stumm und zähneknirschend zusehen, wie der Todfeind Israels dort Truppen für neue Angriffe auf Israel sammelt? Gleichzeitig besteht kein Zweifel, dass Teheran, inspiriert von diesen Schwierigkeiten des israelischen Militärs und der sich abzeichnenden Verschlechterung der Beziehungen Israels zu den Vereinigten Staaten, in den kommenden Monaten mit doppelter Energie Syrien unterstützen wird. Auch neue Lieferungen hochpräziser Waffen aus eigener Produktion an die sich in Syrien aufhaltenden großen Einheiten der schiitischen „Hisbollah“ sind zu erwarten. Oder die Waffen werden über Syrien in den Libanon geschickt, was schon lange praktiziert wird. In Libanon wurden für viele dieser Raketen seit langem gut verborgene und getarnte Unterstände vorbereitet. Vor allem im September 2018 warnte der damalige israelische Staatschef Netanjahu in der UN-Vollversammlung: „Der Iran zwingt die Hisbollah, geheime Einrichtungen für die Produktion und Lagerung von hochpräzisen Raketen zu bauen, die Ziele tief im israelischen Hinterland mit einer Genauigkeit von wenigen Metern treffen können.“ Für die Iraner war es früher schwieriger, solche Arsenale in Libanon anzuhäufen. Nach nicht einmal einer Stunde Marsch wurden die Kamel-Karawanen durch israelische Raketen beschossen. Jetzt wird die Route viel sicherer.

Diese Bedrohung lässt Tel Aviv praktisch keine andere Wahl: Israel wird trotz der veränderten Positionen Moskaus und Washingtons immer wieder in Syrien zuschlagen müssen. Nur unter den neuen Bedingungen ist das für alle Konfliktparteien sehr belastend. Vermutlich hat sich deshalb auch der neue israelische Ministerpräsident Naftali Bennett dringend auf einen Besuch in den USA vorbereitet. Sein erstes Treffen mit Biden ist für Ende August geplant. Er wird auf jeden Fall versuchen, den amerikanischen Staatschef davon zu überzeugen, den politischen Kurs der USA im Nahen Osten zu ändern. Logischerweise wird Bennett direkt von Washington nach Moskau fliegen, um genau das gleiche mit Putin zu versuchen. Sonst könnte es für Israel sehr schlimm enden. Allerdings auch für Russland.

 

Quelle: Ischenko, S., Swobodnaja Pressa, 29. Juli 2021 (redaktionell bearbeitete Übersetzung)

von Redaktion (Kommentare: 0)

Zurück

Einen Kommentar schreiben